Felix Helg
war einer von vielen Besuchern der Seemer Dorfet.
Michèle Bischoff und Soraja Hagspiel in der Steinberggasse vor der grossen Hauptbühne der Winterthurer Musikfestwochen.
Auch in diesem Jahr sind die Musikfestwochen vollgepackt mit musikalischen Perlen. Ein Wermutstropfen ist, dass einer der Hauptacts abgesagt hat.
Festival Obwohl überall in der Steinberggasse Helferinnen und Helfer herumwuseln, wirkt die Szene ruhig. Kein Hauch von Hektik, keine Nervosität. Und das zwei Tage vor den Winterthurer Musikfestwochen (MFW)! Die grosse Bühne steht und die einen Helfenden testen Licht und Sound, während andere mit Rolli Waren durch die Gassen transportieren. Warum so gelassen? «Wir sind nach 48 Musikfestwochen ein eingespieltes Team. Wir sind gut im Zeitplan und die Abläufe sind klar», sagt Soraja Hagspiel zwei Tage vor dem grossen Start. Im Interview erzählen die Co-Geschäftsleiterin und die Praktikantin Michèle Bischoff, worauf sie sich in diesem Jahr besonders freuen und was die Absage des Hauptacts für das Festival bedeutet.
Es muss der Super-Gau sein für ein Festival, wenn einer der Hauptacts einen Monat vor dem Auftritt krankheitsbedingt absagt. Wie gross ist der Frust, dass The Smile nicht spielen kann?
Hagspiel: Der Frust ist nicht gross, wir sind eher traurig. Man muss fairerweise sagen: Das kann passieren. Wir haben unsere Optionen, die finanziellen Möglichkeiten und die Risiken geprüft und entschieden, dass wir einen zusätzlichen kostenlosen Konzertabend organisieren. Es ist zwar kein Ersatz, aber wir konnten ein gutes kostenloses Programm auf die Beine stellen.
Bischoff: Ja, das neue Programm ist mega cool. Es war nicht das Ziel, einen Ersatz zu finden, sondern eine gute Alternative anzubieten. Die Acts ziehen ein anderes Publikum an, ein jüngeres und diverseres.
Am Freitag stehen nun Ebbb (Hyper Ambient), Kasi (Indie-Pop), Valentino Vivace (Italo-Disco-Indie-Pop) und Sam Quealy (Techno-Pop) auf der Steibi-Bühne. Was gibt es zu diesem Abend zu sagen?
Hagspiel: Das neue Programm erreicht eine breite Masse und verbreitet gute Laune. Es ist ein in sich geschlossener Abend, der mit elektronischen Klängen anfängt, in deutschen Indie-Pop übergeht bis hin zu Italo-Disco und zum Abschluss wieder bei elektronischen Soundslandet.
Die Tickets für den Freitagabend wurden automatisch zurückerstattet. Die Dreitagespässe können zurückgegeben werden. Wie viele haben davon Gebrauch gemacht?
Hagspiel: Tatsächlich haben rund 20 Personen den Dreitagespass zurückgegeben. Es freut uns, dass so viele das Angebot der Musikfestwochen unterstützen und sagen: Okay, ich komme trotzdem und geniesse die Musik. Das freut uns, denn uns ist es wichtig, den Bands faire Gagen zu bezahlen. Gerade in einer Zeit, in der die Musik oft gratis gestreamt wird, wollen wir ein Bewusstsein schaffen für den Wert derLivemusik.
Eine Versicherung für den krankheitsbedingten Ausfall gibt es nicht. Wie schlimm ist die Absage finanziell?
Hagspiel: Vorab ist es einfach schade um den Inhalt. Es hätte uns inhaltlich sehr gefreut, eine solche Band in der Steibi zu präsentieren. Wie es finanziell ausfällt, ist nun mega wetterabhängig. Fakt ist jedoch: Dem Verein entgehen die Ticketeinnahmen von einem ausverkauften Abend. Bei schlechtem Wetter fällt das sehr ins Gewicht. Bei schönem Wetter haben wir auch gute Einnahmen vom Getränkeverkauf und der Kollekte.
Was ist neu an den MFW?
Bischoff: Wir haben neu eine alkoholfreie Bar mit Cocktails und Süssgetränken und alkoholfreiem Bier, die «MITOHNE»-Bar in der Steibi.
Hagspiel: Dass wir ein Konzert in Gebärdensprache verdolmetschen ist zwar nicht neu. Neu bieten wir aber in Zusammenarbeit mit «Sichtbar Gehörlose Zürich» einen Crashkurs in Gebärdensprache an. Dieser findet am Donnerstag, 8. August, statt.
Bischoff: Etwas Besonderes ist auch der Dokfilm «Musikfestivals: Zwischen Aktivismus und Greenwashing», der in der Stadtbibliothek gezeigt wird. Die Musikfestwochen sind ein Teil dieser Doku.
Hagspiel: Oder die Relaxperformance für Menschen mit Neurodivergenz (zum Beispiel aus dem Autismus-Spektrum) im Gewerbemuseum, wo es nur wenig sensorische Reize gibt. Die Türen bleiben offen, und das Publikum kann sitzen oder liegen. Neu gibt es auch für das Awareness-Team einen Stand neben der hindernisfreien Tribüne.
Das Awareness-Team ist zum dritten Mal Teil der Musikfestwochen. Wie hat sich dieses bewährt?
Hagspiel: Das Thema ist uns sehr wichtig. Wir wollen ein Bewusstsein schaffen für alle Arten von Diskriminierung. Es ist schön zu sehen, wie viel positive Rückmeldungen wir diesbezüglich erhalten und wie stark sich das Thema in der Organisation verankern konnte.
Es gib einen Awareness-Briefkasten. Gab es Rückmeldungen?
Hagspiel: Ja, wir kriegen Rückmeldungen – jedoch weniger als erhofft. Es ist wichtig, dass Betroffene vertraulich und nach Wunsch anonym einen Vorfall bei uns platzieren können. Denn nur wenn wir wissen, was geschieht, können wir unser Awareness-Konzept weiterentwickeln.
Bischoff: Aber wir wollen auch ehrlich sein: Die Dunkelziffer ist wohl immer noch gross, da Grenzüberschreitungen schambehaftet sein können.
Zwölf Tage, sieben Bühnen, 100 Programmpunkte: Die Musikfestwochen verwandeln die Stadt in ein Mekka für Musikliebhaber. Auf was freut ihr euch persönlich? Was ist euer Geheimtipp?
Hagspiel: Ich habe unseren Booker gefragt, was er empfehlen würde. Sein Tipp: Good Neighbours! Am 17. Januar haben sie ihre erste Single veröffentlicht und im März hatten sie bereits 60 Millionen Plays auf Spotify. Heute sind es gar 241 Millionen Plays.
Bischoff: Junge kennen ihre Musik vielleicht von Tiktok, wo viele Videos mit ihrer Musik hinterlegt sind. Ich freue mich auf den Berner Künstler Edb. Es ist cool, wenn wieder mehr Mundartmusik gemacht wird.
Hagspiel: Eine schöne Geschichte ist auch die von Noemi Beza, die letztes Jahr auf der Startrampe aufgetreten ist. Es war eine magische Stimmung. Nun spielt Noemi Beza dieses Jahr auf der grossen Bühne auf der Steinberggasse.
Viele der Bands, die auftreten, kennen nur Insider. Wer wählt die Bands für das Festival aus?
Hagspiel: Tatsächlich können bei uns Bands platziert werden. The Smile war auch so eine Band, die auf unserer Feedbackwand stand. Bei drei, vier Vorschlägen schaffen wir es, sie zu uns zu holen, aber es muss natürlich auch passen, und die Band muss auf Tour sein. Eine Person aus unserem Festivalteam ist für das Booking zuständig. Er besucht unter dem Jahr viele Showcase-Festivals, hört stundenlang Musik und stellt schliesslich in Zusammenarbeit mit anderen Personen und Institutionen das gesamte Programm zusammen.
Nächstes Jahr werden die MFW bereits 50 Jahre alt. Was könnt ihr zum Jubiläum sagen?
Hagspiel: Es wird sicher etwas geben, aber es ist noch nichts spruchreif.
Was muss noch gesagt werden? Ihr habt das letzte Wort.
Hagspiel: Wichtig zu erwähnen ist, dass die Musikfestwochen ein Werk von vielen für viele ist. Haben letztes Jahr 1200 Helfende das Festival ermöglicht, engagierten sich bis jetzt rund 1100 Personen. Das Festival wäre nicht möglich ohne dieses Engagement. Es herrscht ein schöner Vibe in der Musikfestwochen-Familie.
Interview: Sandro Portmann
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